Sind Autos wichtiger als Kinder?

Stadträtin Jutta Koller und Kinderpfleger Joel Keilhauer im Gespräch über Kinder und Familien in München. Das Interview führte Ulrike Sengmüller.

Wie sieht‘s aus in München mit der Kinderbetreuung?

Jutta: Sie ist deutlich besser geworden. Wir haben in den letzten Jahren unheimlich viel gebaut in München. Aber wir haben noch einige Hausaufgaben zu machen. Ein ganz großes Problem ist: Bisher haben wir unheimlich viel in den Bereich der Unter-DreiJährigen gesteckt. Das ist auch wichtig. Aber spätestens wenn die Schule losgeht, fangen die Eltern an, am Rad zu drehen. Hortversorgung und Ganztagsschulen sind in Bayern überall schlecht.

Wie war die Entwicklung generell in den vergangenen 20 Jahren, seit du im Stadtrat bist?

Jutta: Es hat wohl erstmal vorher niemand mit dem Boom gerechnet, der durch den Rechtsanspruch auf Betreuung für die Unter-Drei-Jährigen ausgelöst wurde. Die 30 Prozent, die der Bund gefordert hat, werden in München nicht reichen. Wir sind nun bei knapp 60 Prozent und das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht.

Wo siehst du den Erfolg der grünen Politik?

Jutta: Wir haben ein Umdenken bewirkt. Heute fordert die CSU mehr Krippenplätze. Als ich in den Stadtrat kam, galten Eltern, die ihr Kind in die Krippe gaben, als Rabeneltern. Mindestens bis zum Alter von drei Jahren musste Mama beim Kind bleiben, besser noch länger. Das letzte Jahr vor der Schule war Kita okay, damit das Kind lernt, sich mit anderen Kindern zu verstehen

Wie macht sich das in der praktischen Arbeit bemerkbar?

Joel: Ich bin in einer Kooperationseinrichtung, also einer Kinderkrippe, die mit einem Kindergarten zusammenarbeitet, und bekomme dort beides mit. Hier merke ich schon, dass zum Teil die Warteschlangen bei der Krippe länger sind als beim Kindergarten. Das Interesse an Krippen ist massiv gestiegen und steigt weiter. Die Situation in München hat sich aber so verbessert, dass zwar immer noch Potenzial da ist, aber wir auch im deutschlandweiten Vergleich ein recht gutes Level erreicht haben.

Jutta: Man muss dazu sagen, dass gerade hier in München viele Eltern darauf angewiesen sind, dass beide verdienen. Das ist in anderen Regionen nicht so notwendig.

Wo seht Ihr noch Bedarf in der Kinderbetreuung?

Jutta: Personal, Personal, Personal. Wir haben einen eklatanten Erzieher*innen-Mangel. Diese Berufe müssen einfach attraktiver werden. Das gilt für den Kita-Bereich ebenso wie für den Altenpflegebereich. Mit der aktuellen Bezahlung gewinnt man keine Massen. Im Kita-Bereich ist die Bezahlung durch den München-Zuschlag nicht ganz so schlecht. Trotzdem – reich wird man damit nicht. Jede*r Automechaniker*in verdient mehr; damit sind Autos wichtiger als Kinder.

Joel: Bei meiner Einstellung wurde mir auch geraten, eine private Rentenvorsorge abzuschließen, da mein Verdienst nicht für eine auskömmliche Rente reichen würde. Angesichts der Tatsache, dass es eine physisch und psychisch sehr anstrengende Tätigkeit ist, ist das schon traurig.

Wie könnte man das finanziell lösen?

Jutta: Es wird ja auch für andere Dinge viel Geld ausgegeben. Wenn man die Diskussion um den S-Bahn-Tunnel als Beispiel nimmt. Ob da nun 100 Millionen mehr ausgegeben werden, wird nicht so kritisch gesehen. Für 100 Millionen Euro könnte man jede Menge in Erzieher*innen und Altenpfleger*innen investieren. Mittelfristig werden wir den Pflegebereich anders ausschütten müssen. Ein Schlüssel von eins zu elf, wie wir ihn jetzt haben, ist auch nicht prickelnd.

Joel: Als Erzieher merkt man jedes einzelne Kind mehr in einer Gruppe massiv. Es ist ein weiterer Mensch mit all seinen Bedürfnissen, die gestillt werden müssen. Auch pädagogisch könnte ich in kleineren Gruppen wesentlich mehr leisten.

Welche Wertschätzung wird Dir als Erzieher entgegengebracht?

Joel: Das ist ganz unterschiedlich. Manche Eltern geben das Kind ab und wollen es erzogen wieder abholen, mit anderen kann man eine richtige Erziehungspartnerschaft eingehen. Die engagieren sich sehr.

Wie sieht es mit der Chancengleichheit für die Kinder?

Joel: Ich habe meine Ausbildung im städtischen Kindergarten im Hasenbergl gemacht und bin nun bei der Glockenbachwerkstatt. Das ist ein massiver Unterschied. Beispielsweise musste ich im Hasenbergl damit anfangen, Kindern, die drei, vier oder fünf Jahre alt waren, erst einmal Deutsch beizubringen. Das ist auch wichtig und richtig. Bei 25 Kindern ist das aber mit zwei oder drei Erzieher*innen nicht leistbar.

Jutta: Wir versuchen, mit der Münchner Förderformel gegenzusteuern, in der auch ein Standortfaktor enthalten ist. Das heißt, eine Kita im Hasenbergl bekommt für diese besonderen Herausforderungen mehr Geld.

Wo seht ihr weitere Schwierigkeiten für Familien in München?

Jutta: Für Familien: Wohnen, Wohnen, Wohnen. Bezahlbarer Wohnraum ist ein wesentlicher Faktor. Speziell für Jugendliche ist es aber auch der öffentliche Raum. Durch die nötige dichtere Bebauung haben wir immer weniger Freiflächen. Um diese Freiflächen streiten sich verschiedene Gruppen. Übertrieben gesagt ist die allgemeine Meinung: Der Jugendliche an sich ist laut, er schmutzt und ist nicht immer gerne im öffentlichen Raum gesehen. Gerade hier ist unsere Politik gefordert. Jugendliche haben die gleichen Rechte. Und sie dürfen auch mal lauter sein.